Panel 1: Regionen Lateinamerikas in der globalisierten Welt – wo geht die Reise hin?

Das erste Panel stand unter dem Motto "Regionen Lateinamerikas in der globalisierten Welt – Wo geht die Reise hin?" und wurde moderiert von Claudia Zilla von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). In ihrer Einführung ging sie zunächst auf den Anlass der grünen Lateinamerikakonferenz ein – den bevorstehenden EU-Lateinamerika-Gipfel in Santiago de Chile im Januar 2013. Der Gipfel, der alle zwei Jahre stattfindet und durch vereinbarte Ablaufmuster einerseits Kontinuität und Gemeinsamkeit zwischen den teilnehmenden Akteuren fördere, konzentriere sich andererseits aber zu stark auf einmal vereinbarte Ablaufmuster und vergesse dabei, seinen Status Quo zu hinterfragen: Was sind die gemeinsamen Ziele, was die gemeinsamen Mittel? Wozu die Partnerschaft? Was ist das strategische Moment dabei?

Die Bedeutung Europas für Lateinamerika habe sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Die Überwindung des "wirtschaftspolitischen Korsetts" der 90ziger Jahre, des "Washington Consensus", habe die lateinamerikanischen Staaten unabhängiger vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und den USA gemacht und sie wandten sich neuen Märkten in Asien zu. Das dadurch entstandene neue Selbstbewusstsein sowie die politische Neuordnung entfernten Lateinamerika weiter von Europa. Das Vorbild der europäischen Demokratien, so Zilla, sei immer weniger ein Modell für lateinamerikanische Staaten.

v.l.n.r.: Hans-Christian Ströbele, MdB, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, Dr. Claudia Zilla, Leiterin Forschungsgruppe Amerika, Stiftung Wissenschaft und Politik,Dr. Hector Alimonda, und Barbara Lochbihler

Seit dieser Entwicklung habe auch die politische und ökonomische Heterogenität der einzelnen Staaten Lateinamerikas zugenommen. Trotz all der Unterschiede wiesen sie aber auch Ähnlichkeiten auf: Erstens, das angewandte Entwicklungsmodell, welches sich hauptsächlich auf Abbau und Export von Rohstoffen konzentriere. Zweitens hätten die lateinamerikanischen Staaten sehr geringe Investitionsraten in Wissenschaft und Forschung, Technologie und Innovation, was ein Problem für den Aufbau von eigenen Industrien darstelle. Und drittens seien die Armutsbekämpfungsstrategien in Lateinamerika zwar teils erfolgreich durch Sozialprogramme und Finanztransfers, adressierten allerdings die strukturellen Ursachen sozialer Ungerechtigkeit kaum.

Worin soll und kann eine strategische Partnerschaft zwischen der EU und Lateinamerika bestehen?

Die Komplementarität der beiden Regionen sei in diesem Kontext ein häufig genanntes Stichwort. Rohstoffabbau und Rohstoffexport auf der einen und Rohstoffinvestitionen undRohstoffsicherung auf der anderen Seite ergänzten sich. Allerdings stünden die Förderbedingungen meist im Widerspruch zu sozialen und ökologischen Zielen. Auch Armut einerseits und Handelsabkommen und Entwicklungszusammenarbeit anderseits seien komplementär. Jedoch würden einige lateinamerikanische Regierungen die damit einhergehenden politischen Konditionierungen durch die EU nicht akzeptieren, da sie dies als Einmischung in ihre nationalen Angelegenheiten werteten und der EU – je nach deren eigener Interessenlage – Doppelstandards vorwerfen.

Die heutige Konferenz könne dazu beitragen, den von Lateinamerika gewählten Entwicklungsweg kritisch zu beleuchten und mögliche Wege für eine alternative Gestaltung der Partnerschaft zu identifizieren, in der Europa das fördere, was zu sozialem Frieden und ökologischer Nachhaltigkeit beiträgt, ohne zurück in paternalistische Muster zu fallen.

Hector Alimonda, Analyst des Conselho Nacional de Desenvolvimiento Cientifico e Tecnológico und Prof. der Universidade Federal do Rio de Janeiro und Barbara Lochbihler, MdEP, Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im EP

Héctor Alimonda, Wissenschaftler der Universidade Federal do Rio de Janeiro, betonte zu Beginn seines Vortrags, dass Bündnis 90/Die Grünen ein sehr wichtiger Gesprächspartner für Lateinamerika seien. Er nannte die Grünen die "offenen Augen" Deutschlands. Anschließend beschrieb er detailliert die politische und wirtschaftliche Neuordnung der Staaten Lateinamerikas in den letzten zwei Jahrzehnten, das gewachsene Selbstbewusstsein des Kontinents und die damit einhergehende Abnabelung von den USA. Die lateinamerikanischen Staaten machten sich nach einer länderübergreifenden Krisenerfahrung - hervorgerufen durch die strikte Durchsetzung des neoliberalen Modells - auf die Suche nach neuen Wegen. Bei genauerem Hinsehen entstehe ein heterogenes Bild unterschiedlicher neuer Führungspersönlichkeiten und Visionen. Gemeinsamkeiten aber würden deutlich, wenn man den Charakter der Entwicklungsmodelle hervorhebe:Der internationale Rohstoffhunger sowie das Profitstreben so genannter Eliten in Lateinamerika führe zu dem, was man als (Neo-)Extraktivismus bezeichne und bringe Raubbau an der Natur und soziale Verwerfungen mit sich. Diese Entwicklung sorge für neue internationale Abhängigkeiten. Zwar seien auch die USA weiterhin ein wichtiges Exportland. Vor allem aber der Handel mit China habe stark zugenommen. Zudem kaufe China viele Ländereien, beispielsweise für Bergwerke und sei damit inzwischen der drittgrößte Investor auf dem Kontinent.

In den lateinamerikanischen Ländern selbst führe die beschriebene Entwicklung zu großer Instabilität, gepaart mit weiteren Problemen wie hoher Kriminalität und der Verletzung von Menschenrechten. Der hemmungslose Abbau von Ressourcen in Form von Megaprojekten wie Staudämmen, Minen, usw. zerstöre nicht nur Naturräume sowie indigene Gebiete und beraube Menschen damit ihrer Lebensräume, sondern stehe häufig sogar im Widerspruch zu den ursprünglichen Zielen der Regierungen.

Trotz dieser einseitigen Abhängigkeit von den Revenuen des Rohstoffhandels weigerten sich die Regierungen beharrlich eine Umstrukturierung des Steuermodells einzuleiten und schützten damit den Reichtum und die Pfründe der Oligarchie. Als Gegenreaktion dazu seien soziale Bewegungen entstanden, die diese Zustände nicht länger hinnehmen wollen. Deren politische Identität stehe häufig im Zusammenhang mit ihrem Umfeld und ihren Lebensräumen. Die Alternativen die sie anbieten, stehen in Bezug zu Konzepten wie "buen vivir", die die Neubestimmung der Natur, ein Leben im Einklang mit der Natur und Rechte der Indigenen umfassen. Zunehmend würde der soziale Protest jedoch kriminalisiert. Alimonda bezeichnete dies als Offensive des Kapitals und des Staates gegen die Bauern und BewohnerInnen von Naturräumen.

Abschließend betonte er, dass konkrete Unterstützung aus Deutschland in Form eines Dialogs und Erfahrungsaustausches viel ausrichten könne, um diesen Problemen zu begegnen. Wichtig sei aber, dass die Vielfalt Lateinamerikas und die eigenen historischen Erfahrungen des Kontinents von deutscher und europäischer Seite dabei respektiert würden.

Barbara Lochbihler, Mitglied des europäischen Parlaments kommentierte den Vortrag von Héctor Alimonda aus europäischer Sicht. Als Vorsitzende des Unterausschusses für Menschenrechte lag ihr Fokus dabei auf den Auswirkungen auf die Menschenrechtssituation. Lochbihler unterstrich die Probleme, die sich aus dem ungezügelten Neo-Extraktivismus ergeben. Dass dieses Modell an seine Grenzen gerate, zeige beispielsweise der Gold- und Silberabbau in Peru und Mexiko. Dieser gehe einher mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen – nicht nur aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen in den Minen selbst. Der Abbau führe zu starken Verunreinigungen des Trinkwassers und verletzte somit auch das Recht auf Wasser. Insbesondere die indigene Bevölkerung leide unter den wirtschafts- und infrastrukturellen Großprojekten, die meist ohne ihre Zustimmung in ihren Gebieten gebaut würden. Das verletze das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Völker, wie es in der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation sowie seit 2007 auch in einer UN-Konvention festgeschrieben ist.

Viele, die sich sozialen Bewegungen anschließen, um gegen solche Großprojekte zu demonstrieren, würden Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Polizei und Militär gingen hart gegen Demonstrierende vor, folterten sogar. Für diese Entwicklung seien jedoch nicht nur interne Kräfte verantwortlich. Auch die EU, die sich den weltweiten Zugang zu Rohstoffen sichern wolle, trage zu dieser Entwicklung bei. Freihandelsabkommen zwischen der EU und lateinamerikanischen Staaten verhinderten beispielsweise Technologietransfer vielmehr als ihn zu fördern und zementierten so die Rolle Lateinamerikas als reiner Rohstofflieferant. Die Grünen im Europaparlament hätten sich aus diesem Grund massiv gegen das Freihandelsabkommen der EU mit Peru und Kolumbien ausgesprochen, da dies vor allem (Groß-)Konzernen sowie der Agrarindustrie nutze und erhebliche soziale und ökologische Risiken berge.

Lochbihler bemängelte zudem, dass die in den EU-Assoziationsabkommen enthaltenen Menschenrechtsklauseln selbst bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Großprojekten in Lateinamerika nicht durchgesetzt würden wie z.B. bei den diesjährigen Protesten der MinenarbeiterInnen in Peru.

Abschließend betonte Lochbihler die Wichtigkeit eines Dialogs mit den lateinamerikanischen Staaten und einer konkreten Solidarisierung.

Hans-Christian Ströbele, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages ging in seinem Kommentar auf die Beziehungen Deutschlands zu den lateinamerikanischen Staaten ein. Ströbele, der Lateinamerika seit den 80ziger Jahren durch viele Reisen und seine politische Arbeit verbunden ist, unternahm zunächst eine kleine Zeitreise. Dabei skizzierte er die Entwicklung vieler Länder Lateinamerikas, einst regiert von Militärregimen bis zu den heute demokratisch gewählten Regierungen. Auch er betonte die Selbstständig- und Unabhängigkeit des Kontinents, die Ausdruck finde in den verschiedenen regionalen Bündnissen wie der CELAC, UNASUR oder Mercosur. Trotz dieser Entwicklung, gebe es weiterhin erhebliche Missstände: das Leben eines Großteils der Bevölkerung sei weder gut noch sicher, die Menschenrechtslage vielerorts prekär.

Ströbele betonte ebenso wie seine VorrednerInnen die Mitverantwortung Deutschlands an der aktuellen Situation in den lateinamerikanischen Staaten. Durch seine starke Nachfrage nach Rohstoffen aus der Region trage auch Deutschland einen Teil bei zu den schweren ökologischen und sozialen Folgen in der Region.

Als weiteres Beispiel für die gegenseitigen Wechselwirkungen nannte Ströbele die Drogenproblematik. Der illegale Anbau und Handel habe nicht nur Konsequenzen für die Anbau- und Transitstaaten Süd- und Mittelamerikas, sondern auch für Europa und Deutschland. Solange auf diesem illegalen Markt mit riesigen Profiten zu rechnen sei, bekäme man das Problem nicht in den Griff. Daher müsse man gemeinsam nach einer Lösung suchen, die außerhalb des sogenannten "Drogenkriegs" läge – also nicht militärisch oder mit Gewalt durchgesetzt werde. Im Zusammenhang damit müsse auch die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und einer funktionierenden Justiz stehen.

Entscheidend sei, schloss Ströbele, dass der Dialog zwischen Lateinamerika und Deutschland hinsichtlich all dieser Problemfelder auf Augenhöhe geführt werde.