Forum 6: Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen und Versöhnung – Strategien gegen die Straflosigkeit?

Schwere Menschenrechtsverletzungen und gesellschaftliche Versöhnung sind Themen, die viele lateinamerikanische Staaten betreffen. Die Wege der Aufarbeitung sind so unterschiedlich wie die lateinamerikanischen Staaten selbst. Ingrid Hönlinger, Mitglied des Bundestages, führte in die Thematik ein. Sie stellte die ReferentInnen aus Argentinien und Guatemala vor. Ihre Länder stehen exemplarisch für die verschiedenen Herangehensweisen an das Thema Aufarbeitung.

Dr. Estela Schindel, von der Universität Konstanz, gab einen kurzen Überblick darüber, was während der Zeit der Militärdiktatur in Argentinien passierte. Mehrere zehntausend Menschen seien in dieser Zeit "verschwunden". Die Methode, Menschen systematisch verschwinden zu lassen, sei ein Terror- und Repressionsmittel. Es verursache ein Trauma in der Gesellschaft. Nach Ende der Militärdiktatur habe die Aufarbeitung zunächst hohe Priorität gehabt. Dann seien jedoch auf Druck der Militärs Amnestiegesetze erlassen worden. Erst viele Jahre später sei die Vergangenheit wieder auf die politische Agenda gekommen. Dabei hätten die Familienangehörigen der Opfer eine wichtige Rolle gespielt. Die Zivilgesellschaft habe sich bemüht, die Täter durch Ausnutzung von Lücken in den Amnestiegesetzen zur Verantwortung zu ziehen. Insbesondere in der Phase nach Erlass der Amnestiegesetze sei  auch ausländischen Akteuren, wie der deutschen Koalition gegen die Straflosigkeit in Argentinien, eine bedeutende Rolle zugekommen. Später sei die Erinnerungspolitik staatlich gefördert und betrieben worden. Aktuell sei das Thema sehr präsent, auch in den Medien und an den Schulen. "Orte der Erinnerung" würden geschaffen, z.B. durch Rekonstruktion der ehemaligen Gefangenenzentren, welche für die Öffentlichkeit geöffnet werden. Versöhnungskommissionen seien in Argentinien weniger erfolgreich gewesen als in anderen Ländern.

Bischof Álvaro Ramazzini informierte über die Geschehnisse in Guatemala während des Bürgerkriegs. Viele Menschen seien verschwunden oder hätten das Land verlassen müssen. Die Bewohner ganzer Dörfer seien ermordet worden. Schon vor dem Friedensvertrag hätten einige Bischöfe im Gespräch, sowohl mit den Tätern als auch mit den Opfern, die Geschehnisse dokumentiert. Man könne nur verzeihen, wenn man wisse, wem man wofür verzeihe. Gerechtigkeit könne nicht vom Verzeihen getrennt werden. Auch Tätern solle die Möglichkeit gegeben werden, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Das Wissen um die Wahrheit sei auch wichtig, um deren Wiederholung der Geschehnisse in der Zukunft zu vermeiden. Eine vierbändige Dokumentation, die unter dem Namen "Guatemala nunca más"  (Guatemala nie wieder) veröffentlicht wurde, verdeutliche, dass der Hauptanteil der Menschenrechtsverletzungen von den Streitkräften begangen worden seien, wenige dagegen von Guerillas und Paramilitärs. Viele Menschen im ganzen Land seien als Folge der Menschenrechtsverletzungen tief verletzt, auch wenn sie nicht selbst unmittelbare Opfer der Gräueltaten gewesen seien. Das gesellschaftliche Gewebe des Landes sei zerstört. Hier liege auch eine der Ursachen für die aktuell hohe Gewaltrate im Land. Vor allem für die verschiedenen indigenen Völker in Guatemala sei auch wichtig, dass die "geheimen Friedhöfe" der Verschwundenen aufgefunden würden. So hätten angemessene Begräbnisse nachgeholt werden können. Verfahren wegen Genozids dauerten noch heute an.

Álvaro Ramazzini, Ingrid Hönlinger, Dr. Estela Schindel, Universität Konstanz

In der sich anschließenden Diskussion wurde betont, wie wichtig es für eine erfolgreiche Aufarbeitung sei, dass dieser Prozess vom Staat gewollt und gefördert werde. Um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, müsse an den strukturellen Ursachen des Konflikts angesetzt werden.

Würden systematische Menschenrechtsverletzungen nicht aufgearbeitet, habe dies zur Folge, dass das gesellschaftliche Gewebe nachhaltig zerstört werde. Dies ziehe in vielen Fällen neue Menschenrechtsverletzungen nach sich. Um das Wiederaufleben menschenrechtsfeindlicher Systeme zu vermeiden, sollten möglichst auch Kinder und Jugendliche in den Aufarbeitungsprozess einbezogen werden. Ihnen müsse vermittelt werden, dass Menschenrechtsverletzungen nicht straflos bleiben dürften. Der Bildung komme eine Schlüsselfunktion zu, um die Geschichte bewusst zu machen. Äußerst wichtig seien in diesem Kontext Erinnerungsorte.

Die Teilnehmer hinterfragten die Rolle Deutschlands und Europas während der Zeit der  Militärdiktaturen in Lateinamerika. In vielen Fällen seien die lateinamerikanischen Militärregime durch eine wohlwollende Haltung seitens europäischer Regierungen, durch Polizeiausbildung, Kommunikationstechnologien und zum Teil sogar Waffenlieferungen unterstützt worden. Die Verantwortung Deutschlands und Europas müsse viel stärker untersucht und Teil der Aufarbeitung werden. Kritisiert wurde auch, dass Deutschland sich gegen die Auslieferung des ehemaligen Arztes Hartmut Hopp der Colonia Dignidad in Chile sperre, der in Chile zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.

Insgesamt seien internationale Partnerschaften wichtig, um die Zivilgesellschaft in den lateinamerikanischen Staaten zu stärken. Impulse durch die Zivilgesellschaft seien besonders bedeutsam, wenn von staatlicher Seite der Aufarbeitungsprozess nicht gefördert oder sogar blockiert werde. Hier sei auch internationale Unterstützung relevant, damit unabhängig von der jeweiligen Regierung im betroffenen Land Projekte weitergeführt und die Nachhaltigkeit der Programme auch bei einem Regierungswechsel gesichert werden könne.

Bei der Aufarbeitung dürfe nicht nur bei den Militärs angesetzt werden, der Prozess müsse sich auch auf Verwaltung und Justiz erstrecken. Hier verblieben häufig die Personen, die damals Teil des Systems waren, in ihren Positionen. Eine Aussöhnung müsse vor allem auch zwischen Staat und  Opfern erreicht werden, nicht nur zwischen Tätern und Opfern.

Deutschland und die lateinamerikanischen Staaten hätten ähnliche Erfahrungen mit systematischen Menschenrechtsverletzungen gemacht. Sie könnten bei der  Aufarbeitung der Vergangenheit viel voneinander lernen. Wichtig sei, dass man sich auf Augenhöhe begegne und sich gegenseitig zuhöre.