Forum 4: Verteilungsgerechtigkeit und Investitionen in Sozialprogramme, am Beispiel Brasilien

Brasilien ist in den vergangenen Jahren in die Riege der reichsten Nationen der Welt aufgestiegen und ist aktuell sechst-größte Volkswirtschaft der Welt. Brasilien gehört ohne Zweifel zu den Ländern in Lateinamerika, die große Anstrengungen unternommen haben, die Ungleichheit abzusenken. Gleichzeitig gehört Brasilien jedoch zu den Ländern mit extremer Spaltung zwischen Arm und Reich. Welchen Weg Brasilien eingeschlagen hat und welche Schlüsse sich daraus auch für die Partnerschaft mit der EU ergeben, waren zentrale Fragestellungen des Forums. Die Abgeordneten Gerhard Schick und Uwe Kekeritz aus der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen leiteten das Forum. Als Referenten waren Prof. Dr. Sérgio Costa, Soziologe des Lateinamerika-Institut Freie Universität Berlin und Dr. Dawid Bartelt, Büroleiter Brasilien Heinrich-Böll-Stiftung eingeladen worden.

In seinem Eingangsstatement verknüpfte Uwe Kekeritz die soziale Frage mit der Frage um Gerechtigkeit. Er betonte, dass es in den vergangenen Jahren 28 Mio. Brasilianern gelungen sei, der absoluten Armut zu entkommen. Gleichzeitig lebten aber noch immer 16 Mio. Menschen unter der Armutsgrenze. Mit einer Steuerquote von 38 Prozent gehöre Brasilien zu den Spitzenreitern in Lateinamerika, wenngleich Arme in Brasilien verhältnismäßig viele  Steuern zahlten, besonders durch sogenannte indirekte Steuern. Wie gerecht ist das brasilianische System also, fragte Kekeritz. Er unterstrich weiterhin die große Bedeutung von sozialer Sicherung für die Stabilität eines Landes und als Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung. Er machte aber auch deutlich, dass es einerseits um den Ausbau von Sozialtransfers gehe, anderseits ebenso um die Beseitigung von struktureller Armut.

Dr. David Bartelt, Büroleiter Brasilien Heinrich-Böll-Stiftung, Dr. Sergio Costa, Soziologe, Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin, Uwe Kekeritz, MdB, Vorsitzender des Unterausschusses Gesundheit in Entwicklungsländern, Gerhard Schick

Dr. Dawid Bartelt stellte zu Beginn seines Beitrags vier Thesen auf: 1. Brasilien habe die absolute Armut im Land spürbar reduziert, was ökonomisch, politisch und sozialpsychologisch von großer Bedeutung sei. 2. Die Armutsverringerung basiere größtenteils auf dem Wirtschaftswachstum und nur zu geringem Teil auf den staatlichen Programmen. Eine Umverteilung hätte also nicht stattgefunden und die Ungleichheit sinke damit nur sehr langsam. Der Sozialtransfer durch das Programm "Bolsa Família" lindere zwar das Elend recht erfolgreich, ändere aber die strukturellen Voraussetzungen der Armut kaum. Zudem nutze der brasilianische Staat die Umverteilungsmöglichkeiten über Steuern zu wenig. 3. Die Sozialpolitik in Brasilien sei Teil des brasilianischen Entwicklungsmodells. Das Entwicklungsmodell sei aus menschenrechtlicher, vor allem aber aus ökologischer Perspektive problematisch. Brasiliens Wirtschaft basiere auf dem Export von Rohstoffen und Erzeugnissen des Agrobusiness während die Landfrage im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit ungelöst bleibe. 4. Auch die Rückkehr zu einer Politik von umweltschädlichen Großprojekten mit sozialen Verwerfungen, biete gerade für Grüne die Möglichkeit gegenüber Brasilien Vorschläge einer Institutionalisierung einer rechtegeleiteten und ökologischen Sozialpolitik zu machen und die Zivilgesellschaft hierin zu unterstützen, so Bartelt.

Prof. Dr. Sérgio Costa skizzierte die unterschiedlichen Wohlfahrtskonzepte, wie etwa die so genannte schwachen Wohlfahrt und demgegenüber die emphatische Wohlfahrt. Er verdeutlichte eindrucksvoll am Gini-Koeffizient (einer statistischen Größe, die die Ungleichheit in einem Land misst) die unterschiedlichen Sozialpolitiken in Lateinamerika und Europa. So zeigte er beispielsweise auf, dass sich die soziale Ungleichheit in Brasilien nur wenig durch Steuern und Transfers ändere, während es in Deutschland deutliche Umverteilungseffekte durch Steuern und Sozialtransfers gebe.  Costa zeigte auch am Beispiel der Hochschulbildung auf, dass es hier zwar enorme Verbesserungen gegeben hätte und jetzt mehr als doppelt so viele Brasilianer studierten wie noch vor 10 Jahren, dass aber 60 Prozent der Studierenden aus den 20 Prozent der reichsten Familien kommen würden. Dies verdeutliche, dass Wohlfahrtseffekte lediglich einer kleinen Schicht zugutekämen und berge die Gefahr, nur die Oberschicht zu reproduzieren. Die Bekämpfung der strukturellen Armut in Brasilien komme zu kurz. Besonders kritische Punkte seien die Landkonzentration, die hohen Rohstoffexporte, der große informelle Sektor und zum Teil auch die hohe Binnenverschuldung Brasiliens.

Manoel Uilton Dos Santos, Koordinator der Nationalen Organisation Indigener Völker

Auch Manoel Uilton dos Santos (Tuxá), Koordinator der regionalen Organisation Indigener Völker (APOINME) und Führungsmitglied des nationalen Dachverbandes indigener Organisationen (APIB), war Teilnehmer des Forums. Er unterstrich den Aspekt, dass soziale Gerechtigkeit eine Frage der Verwirklichung der Rechte sei und in Brasilien insbesondere der Landrechte. Hier sehe er auch eine besondere Aufgabe der Grünen, die Rechte einzufordern und indigene Gruppen und Zivilgesellschaften vor Ort zu unterstützen. Allein in den letzen Jahren seien mehr als 500 Menschen in Landkonflikten ermordet worden. Die Umsetzung der von Brasilien unterzeichneten ILO-Konvention 169 sei ein wichtiger Baustein in der Verwirklichung der Rechte Indigener und andere Minderheiten in Brasilien.

Gerhard Schick resümierte, dass in der Diskussion deutlich geworden sei, dass es in der Partnerschaft zwischen Brasilien respektive Lateinamerika und der EU eine deutliche Stärkung der sozialen und ökologischen Dimension bedürfe, insbesondere in den Handelbeziehungen. Zugleich sei in der Debatte aber auch deutlich geworden, dass die soziale Frage nicht nur eine Frage von Gerechtigkeit sei, sondern auch eine Frage der Verwirklichung von Rechten. Besonders die Rechte von indigenen Völkern wie auch der bürgerlichen, politischen und WSK-Rechte, um Zugang zu Land und Agrarreformen zu ermöglichen, seien dabei zentrale Bausteine. Auch die Rolle von transnationalen Unternehmen wurde in der Diskussion thematisiert und in diesem Zusammenhang die Schaffung von Transparenz- und Kontrollregeln. Die soziale Spaltung zu überwinden liege damit nicht nur in den Händen einzelner Länder, sondern auch in denen der internationalen Staatengemeinschaft und einer organisierten Zivilgesellschaft.